Das Ihme-Zentrum – Ein Symbol des Scheiterns?
Jeder Hannoveraner kennt es: das Ihme-Zentrum in Linden. Der Betonklotz am Ihmeufer kämpft seit Jahren mit einem schlechten Image. Viele halten das Ihme-Zentrum für ein Getto, für einen Unterschlupf für Obdachlose und Treffpunkt für Kriminelle. Doch was ist dran an den Vorurteilen?
Wir treffen uns mit Constantin Alexander und einer Geburtstagsgesellschaft, der wir uns anschließen durften. Constantin lebt seit anderthalb Jahren in einer der 850 Wohnungen im Ihme-Zentrum – und er wohnt dort gern. Wir beginnen den Rundgang auf der anderen Seite der Ihme. «Von hier aus sieht man die Struktur am besten», erklärt Constantin. Und je länger wir dort stehen und je mehr Constantin erzählt, desto wuchtiger wirkt das Ihme-Zentrum auf mich. Ein bisschen bedrückend, irgendwie.
«Das komplette Untergeschoss war früher ein Einkaufszentrum. In der darüber liegenden ersten Etage waren Büroflächen.» Heute steht dort alles leer. Fensterlose graue Wände, die mit bunten Graffiti tätowiert wurden.
Wie ist das Ihme-Zentrum entstanden?
Eine Stadt in der Stadt: Das war der Traum in den revolutionären 60er-Jahren. Die Träume waren groß und Ideen gab es viele. Leben, Einkaufen, Arbeiten und Freizeit an einem Ort, das war das Konzept hinter dem Ihme-Zentrum. Es sollte das Image des Stadtviertels Linden aufbessern, das zu der Zeit als «Genickschussviertel» im Volksmund bekannt war. Geld spielte zur Zeit des Wirtschaftswunders keine Rolle und Gastarbeiter aus Jugoslawien waren billig. Die Bauherren planten und planten, als gäbe es kein morgen. Sie ignorierten die erhobenen Zeigefinger der Experten, die warnten: «Das Ding wird zu groß!» Wenn die gewusst hätten! Denn im Endeffekt wurde das fertige Ihme-Zentrum dreieinhalb Mal so groß wie der ursprüngliche Plan es vorgesehen hatte. Grund dafür war die Zinserhöhung, durch die das Geld knapp wurde. Die Lösung der Bauherren: mehr Fläche schaffen, die man verkaufen konnte! Gesagt, getan – et voilá: Das Ihme-Zentrum XXL war geboren.
Warum scheiterte das Konzept des Ihme-Zentrums?
Was für uns heute selbstverständlich ist, war damals eher Zukunftsmusik: Gerade einmal 30 Einkaufszentren gab es zu der Zeit, als das Ihme-Zentrum gebaut wurde. Kein Wunder, dass der gigantische Betonbau alle Kinderkrankheiten besitzt, die er haben kann. Constantin nennt uns ein paar Beispiele: die fehlende Möglichkeit eines Spaziergangs an der Ihme, oder der Fauxpas, das Zentrum nicht auf die andere Seite des Flusses gebaut zu haben. Dann hätten die Südbalkone nämlich einen tollen Flussblick. Doch das ist nicht der Grund für die leer stehenden Ladenflächen.
Nachdem die großen Anzugspunkte wie Galeria Kaufhof oder Saturn ihre Ladenflächen auflösten und in die Innenstadt zogen, ging es für den Rest bergab. Bis alles dicht gemacht wurde. «Das Ihme-Zentrum ist nach Abriss des Einkaufszentrums dem Broken-Windows-Effekt zum Opfer gefallen», erklärt Constanin. «Ein kaputtes Fenster kann zur kompletten Verwahrlosung führen.»
Der perfekte Drehort für einen Tatort
Constantin führt uns in die Erdgeschossebene, die aber eher an einen Gruselkeller erinnert. Offenliegende Kabel hängen von den Decken, die kalte Nässe der Wände zieht uns durch die Glieder. Licht strahlt mühsam aus alten Neonröhren von der Decke. Vor einer rostigen, plakatierten Tür machen wir Halt.
«Hier seht ihr eine Eingangstür ins Treppenhaus. Und nun stellt euch vor, ihr seid in Linden feiern, lernt jemanden kennen und sagt: Wir müssen nur kurz durch diesen Keller und diese Tür gehen.» Wir lachen.
«Ich habe eine Idee!», sagt einer der Teilnehmer des Rundgangs. «Die sollten hier den nächsten Schweiger-Tatort drehen. Und am Ende wird Schweiger hier erschossen! Dann wäre doch allen geholfen.» Wir lachen noch ein bisschen lauter.
«Hier wurde tatsächlich schon mal ein Tatort gedreht», sagt Constantin.
Das glaube ich sofort.
Besser als sein Ruf
Das Ihme-Zentrum hat leider nicht den besten Ruf. Dazu trägt nicht nur die bröckelige Fassade bei, sondern auch die vielen Gruselgeschichten, die über das Gebäude kursieren. Angeblich hat man während des Baus einen verunglückten Bauarbeiter einfach einbetoniert. Und der Ihme-Platz 1 ist aufgrund seiner suizidalen Vorkommnisse als Springerturm bekannt geworden. Die RAF plante ihre Machenschaften auch im Klotz, wie sie das Ihme-Zentrum intern nannten.
Einige dieser Geschichten sind wahr, werfen jedoch zu unrecht ein Bild des Verbrechens auf das heutige Ihme-Zentrum.
«Ich habe mich mit der Polizei unterhalten: Das Ihme-Zentrum verzeichnet erstaunlich wenige Straftaten. Auf der Limmerstraße geht es wesentlich härter zur Sache», beruhigt uns Constantin, denn wir bibbern ein bisschen nach den Schauergeschichten.
Ein Symbol des Scheiterns – aber warum?
Wir erreichen in den oberen Bereich, wo einst Geschäfte ein bisschen Farbe in den grauen Beton hauchten. Ich kenne das Ihme-Zentrum nicht zu seinen guten Zeiten und kann mir kaum vorstellen, dass hier tatsächlich Menschen ihren Samstag verbrachten, um zu shoppen & zu quatschen & Spaß zu haben. Es erinnert eher an eine Kulisse, die ich sonst aus Filmen kenne. Wenn sie ein Dorf zeigen, in dem endlich kein Krieg mehr herrscht.
«Stellt euch mal vor, was man hier raus machen kann!»
Constantin sprüht vor Optimismus. Er glaubt an eine Zukunft des Ihme-Zentrums. Er glaubt an einen Ort der Kreativität, des Außergewöhnlichen, des Besonderen. Buchläden, Ateliers, aber auch Konzertort, Bolzplatz, Skaterpark und ein Hochgarten sind nur ein paar Ideen.
«Man könnte doch die gesamte hannoversche Stadtverwaltung hier rein holen!» schlägt einer vor. Doch das entspricht nicht Constantins Vision: Für ihn soll Hannover zu einer Kulturhochburg werden, und gleichzeitig ein Anzugspunkt für Auswärtige.
«Der Umbau des Ihme-Zentrums kann das gesamte Stadtbild Hannovers fördern! Ich liebe Hannover und finde es schade, dass es außerhalb einen so schlechten Ruf hat», sagt Constantin. «Das Ihme-Zentrum ist ein Symbol des Scheiterns – warum können wir das nicht umdrehen und es zu einem Symbol des Wiederaufstiegs machen?»
Wir beenden den Rundgang auf einer Aussichtsterrasse, von der aus wir Hannover überblicken. Ich sehe das Rathaus, die Nord-LB, das Anzeiger-Hochhaus und viele andere Wahrzeichen der Stadt, in die ich mich gerade noch ein bisschen mehr verliebt habe. Auf einem weiteren Wahrzeichen stehe ich gerade. Vielleicht verliebe ich mich eines Tages auch in das Betonmonster?